Gerhard Weiß
Lessingstr. 14
74747 Ravenstein
Rede zur 60-Jahr-Feier der Realschule Krautheim
(11. Juli 2015)
Verehrte Festgäste,
liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Aufgabe ist es, Sie über die Hintergründe der Entstehung unserer Schule vor sechzig Jahren, also im Jahr 1955, zu informieren. Ich will Sie hier nicht lange mit der Vorgeschichte langweilen, doch die damalige Situation Krautheims zwingt mich, wenigstens einige Anmerkungen dazu zu machen. Nur zwei Jahre vorher, also im Jahr 1953, war unser Bundesland aus dem Zusammenschluss von Baden, Württemberg und Hohenzollern entstanden und bis dahin war unser Städtchen 150 Jahre lang direkt an der alten Landesgrenze gelegen. Diese üble Situation hatte folgende Ursache: Im Jahr 1802 hatte Napoleon die geistlichen deutschen Fürstentümer, darunter auch das Kurfürstentum Mainz, aufgelöst und dadurch ergab sich für Krautheim eine Situation, die geradezu von historischer Bedeutung hätte werden können, denn aus der Konkursmasse des Mainzer Bistums wurde auf dem Gebiet des vorherigen Oberamts Krautheim das Fürstentum Krautheim gegründet. Aus dieser Perspektive betrachtet bildeten die Jahre 1802 bis 1806 den absoluten Kulminationspunkt der hiesigen Geschichte. Wäre der Versuch nicht gescheitert, dann wäre Krautheim sogar zur Hauptstadt eines Fürstentums, also eines eigenständigen Staates innerhalb des Deutschen Bundes, geworden. Welche Folgen diese Entwicklung hätte haben können, wird einem erst bewusst, wenn man bedenkt, dass exakt zur gleichen Zeit unter ganz ähnlichen Vorgaben auch das Fürstentum Liechtenstein entstand. Dieses war nicht einmal halb so groß und hatte auch weit weniger als die Hälfte der hiesigen Bevölkerung und bitterarm waren die Leute hier wie dort. Aber während sich dort die Nachbarn Österreich und Schweiz nichts aus den erbärmlichen elf Dörfern machten, wurde das Fürstentum Krautheim bereits 1806 von seinen mächtigen Nachbarn, dem Königreich Württemberg und dem Großherzogtum Baden, zerschlagen und aufgeteilt.
Schade, dass das bei uns so schief ging! Stellen Sie sich einmal vor: Herr Köhler wäre heute Regierungschef, Pfarrer Pierro Landesbischof, die Volksbank befände sich in einer Liga mit der Liechtensteiner Landesbank und würde im Geld der Milliardäre aus dem Kochertal und dem Rest der Welt schwimmen! Unsere Löhne und Gehälter wären doppelt so hoch, aber die Steuerquote um die Hälfte niedriger. Ach, wäre das schön!
Aber es kam genau umgekehrt: Wie man nämlich bei der Zerschlagung des Fürstentums vorging, das brachte für Krautheim die schlimmste aller denkbaren Lösungen: Die Gebiete jenseits der Jagst wurden alle württembergisch, also auch Altkrautheim, die Keimzelle unseres Ortes. Nur vier diesseits gelegene Orte – Klepsau, Krautheim, Gommersdorf und Winzenhofen – gehörten fortan zu Baden. Wenigen Ortskundigen ist bekannt, dass nur ein Steinwurf von unserer Schule entfernt, im Bereich des heutigen Sportplatzes, die Landesgrenze gelegen und das Jagsttal 150 Jahre lang, also bis zur Gründung des Landes Baden-Württemberg im Jahr 1953, geteilt hat. Krautheim entzog man 1864 auch noch die Funktion der Bezirksverwaltung und schließlich in der Nazizeit sogar die Stadtrechte. Am Ende des 2. Weltkriegs war Krautheim nur noch ein verarmtes Dorf mit 800 Einwohnern. Unsere Gegend bezeichnete man lange recht abfällig als „Badisch Sibirien“. Wenn man diesen Vergleich weiterspinnt, dann war Krautheim an der südöstlichsten Ecke dieses Gebietes gelegen so etwas wie das Wladiwostok Badisch Sibiriens. Aber jenseits der Jagst, im Württembergischen, war auch nicht mehr geboten, obwohl dort eine entsprechende Namensgebung nicht überliefert ist.
An dieser Stelle möchte ich jetzt zu den schulischen Zuständen in der Nachkriegszeit, also zur Mitte des letzten Jahrhunderts kommen. Damals gab es in jedem Dorf eine Volksschule, wo selten mehr als ein oder zwei Lehrer – so auch in Krautheim – alle Kinder acht Jahre lang unterrichteten. Es wäre müßig, die ärmliche personelle und materielle Ausstattung dieser Häuser zu thematisieren. Weiterführende Schulen waren vielerorts nicht erreichbar, lediglich einige kirchliche Internate, sogenannte Konvikte, boten einigen leistungsstarken Buben aus kirchennahen Familien einen Zugang zu einem Gymnasium, womit die Kirchen in erster Linie ihren Klerikernachwuchs heranbilden wollten. Auf badischer Seite gab es ein solches Haus schon im 19. Jahrhundert in Tauberbischofsheim und ab 1953 auch in Buchen.
In den Volksschulen wurden also alle Kinder eines Dorfes gemeinsam unterrichtet, selbstverständlich inklusive Inklusion und vielfältigen Formen von Binnendifferenzierung. Man hätte diese Einrichtungen nach unseren heutigen Begrifflichkeiten mit Fug und Recht Gemeinschaftsschulen nennen können. Erst nach 1960, als die schlimmsten Kriegsfolgen überwunden waren, wurde die Bildungspolitik zu einem Schwerpunkt der Landespolitik. Nach den Erkenntnissen der baden-württembergischen Kultusverwaltung besuchten im Jahr 1961 im Landesdurchschnitt 15% der Jugendlichen im Alter von 16 bis 19 Jahren eine weiterführende Schule. In elf besonders ländlichen Regionen lag der Schüleranteil unter 5%. Diese bezeichnete man als Bildungsnotstandsgebiete – und dazu gehörte auch unsere Gegend. In den folgenden Jahren wurden mehrere Forschungsaufträge vergeben, in denen man eine Bestandsaufnahme der Problemgebiete vornahm und nach Möglichkeiten suchte, diese zu beheben. Die hiesigen Verhältnisse wurden von einer Forschungsgruppe unter der Leitung von Prof. Dr. Kurt Aurin intensiv untersucht und die Ergebnisse in der Schriftenreihe „Bildung in neuer Sicht“ unter dem Titel „Ermittlung und Erschließung von Begabungen im ländlichen Raum“ im Jahr 1966 veröffentlicht. Die nachfolgenden Informationen habe ich weitgehend aus dieser Veröffentlichung entnommen.
Das hiesige Untersuchungsgebiet, Bauland-Ahornwald genannt, umfasste 56 Gemeinden, von denen 34 zum Landkreis Buchen, 18 zum Landkreis Tauberbischofsheim und vier zum württembergischen Künzelsau gehörten. Es umfasste das Gebiet zwischen Möckmühl im Süden, Königheim im Norden, dem Tauber- und Jagsttal im Osten und dem Odenwaldrand im Westen. Bei 30.000 Einwohnern gab es hier 1961 ganze 36 Jugendliche im Alter von 16 bis 19 Jahren, die eine weiterführende Schule, also ein Gymnasium oder eine Mittelschule besuchten. Aufschlussreich ist dann auch noch die Unterscheidung nach der Geschlechtszugehörigkeit: Es gab 31 Schüler und lediglich 5 Schülerinnen in dieser Altersgruppe!
Der wesentlichste Grund war leicht festzustellen: Er lag in der extrem schlechten Erschließung durch den öffentlichen Nahverkehr. Aurins Untersuchungen nennen für die 56 Gemeinden folgende Zahlen:
11 Ortschaften hatten keinerlei Verkehrsverbindung zu einer weiter-
führenden Schule.
13 Ortschaften hatten „schlechte Verbindungen“.
Als „schlechte Verbindungen“ wertete man solche mit täglichen Wartezeiten von einer bis vier Stunden und zusätzlichen Fahrzeiten von mehr als einer Stunde.
21 Ortschaften wiesen „erträgliche Mängel“ auf. Dazu zählte man
z. B. solche ohne Verbindungen zwischen 13 Uhr und 18.15 Uhr.
Allen anderen Orten attestierte man gute Verbindungen.
11 Ortschaften zählten zu dieser Kategorie.
Der Forschungsbericht benannte ein soziales Problem als weiteres zentrales Bildungshemmnis: Über 50% der Bevölkerung waren damals noch Bauern. Ihre kleinen, wenig entwickelten Höfe sicherten nur einen weit unterdurchschnittlichen Lebensstandard. Die Mithilfe der Kinder auf dem Hof war häufig unverzichtbar und wurde in manchen Familien für wichtiger erachtet als die Schule. Ich kann mich sehr wohl an Mitschüler erinnern, die jeden Morgen vor Schulbeginn im Stall mithelfen mussten. Ganz grundsätzlich war es so, dass bis in die sechziger Jahre die Ferien im Sommerhalbjahr nach den Bedürfnissen der Landwirtschaft kurzfristig terminiert wurden. Über Heu-, Ernte- und Kartoffelferien – das waren die Vorläufer der Pfingst-, Sommer- und Herbstferien – wurde in Absprache von Bürgermeister und Lehrer wetterabhängig kurzfristig entschieden. Kinderarbeit galt also als absolut normal.
Aus unserer heutigen Sicht lässt sich hier leicht ein vorschnelles Urteil fällen, wonach den Menschen damals die nötige Wertschätzung für die Bildung fehlte. Dabei übersieht man, dass vieles durch eine Armutssituation begründet war, die heute nur noch alte Menschen aus eigenem Erleben nachvollziehen können. Und nicht alle Zeitgenossen störten sich an diesen Zuständen. Der langjährige Direktor des Gymnasiums in Osterburken, Dr. Elmar Weiß, hat mir dazu einmal folgendes erzählt: Als er in der Vorbereitungsphase der dortigen Schulgründung von 1965 ins Oberschulamt Karlsruhe einbestellt war, traf er in der Behörde zufällig einen früheren Studienkollegen. Der beschwerte sich über die neue Politik, wonach „in jedem Winkel des Landes“ weiterführende Schulen gebaut werden sollten und verstieg sich zu folgender Klage: „Wo sollen wir da künftig unsere Hausmädchen hernehmen?“ Also: Manche Stadtbürger hatten durchaus ein Interesse daran, dass man die Defizite der stadtfernen Regionen möglichst beibehielt und die dummen Sprüche über die angeblich so dummen Bauern weiter pflegen und seinen Nutzen daraus ziehen konnte. Tatsächlich war es bis in jene Zeit üblich, dass Mädchen nach der Schulentlassung in einen Haushalt einer städtischen Bürgerfamilie wechselten und dort für ein Taschengeld einen Großteil der häuslichen Arbeit und der Betreuung der Kinder übernahmen.
Erst Ende 1964 wurden in dem erfassten Gebiet Bauland-Ahornwald in groß angelegten Begabungs- und Schuleignungsuntersuchungen über 1500 Kinder ab der 3. Klasse getestet und dabei folgende Ergebnisse erzielt: Rund 19% galten als für das Gymnasium geeignet, 24% für die Mittelschule, also für die Realschule, und 57% wurde die Hauptschule empfohlen, die damals völlig zurecht diesen Namen trug. Diese Zahlen waren im Prinzip deckungsgleich mit denen aus städtischen Gebieten. Und festgestellt wurde weiterhin, dass es keine signifikanten Leistungsunterschiede zwischen Buben und Mädchen gab. Falls Sie sich an der prozentualen Aufteilung der Kinder auf die drei Schultypen stören, möchte ich dazu nur anmerken, dass für die Zuordnung seitenlange Kriterienlisten galten, die gegenüber den heutigen Grundschulempfehlungen unvergleichlich streng waren, ganz abgesehen davon, dass derzeit diese Empfehlungen ohne Relevanz sind und selbst ausgesprochen leistungsschwache Kinder das Gymnasium besuchen dürfen, wenn die Eltern das nur wünschen.
So toll kann Fortschritt sein!
Sie werden sich sicher fragen, was all diese Ausführungen zu den Verhältnissen in den 1960er Jahren hier und heute zu suchen haben, wo wir doch die 60jährige Gründungsfeier unserer Schule im Jahr 1955 begehen. Aber diese Ausführungen waren mir wichtig, denn nur, wenn man sie kennt, kann man den Stellenwert der Gründung unserer Schule angemessen würdigen. All das, was hier auf Landesebene geschah, fand nämlich erst zehn Jahre später statt. Zwar hatte man 1952 in Boxberg eine Zweigklasse des Gymnasiums Tauberbischofsheim und 1953 einen Mittelschulzug in Osterburken gegründet, aber beide Versuche scheiterten. Nur in Krautheim hielt man die so schwierige, etliche Jahre dauernde Probephase trotz widrigster äußerer Bedingungen durch. Krautheim war also zehn Jahre früher dran als die Gründungen der Gymnasien in Osterburken und Adelsheim sowie der Realschulen in Boxberg und Niedernhall. Aber wenn man sich in die damaligen Verhältnisse zurückversetzt, dann waren das nicht einfach zehn Jahre, das war eine ganze Epoche! Als man Anfang der 50er Jahre in Krautheim die Gründung der Mittelschule thematisierte, ging es in Deutschland noch um die Überwindung schlimmster Kriegsfolgeprobleme, um Hungersnot, Wohnungsnotstand, Massenarbeitslosigkeit, natürlich auch in unserer Gemeinde, wo u. a. fast 400 Heimatvertriebene unterzubringen waren. In kaum einer Kommune verschwendete man in dieser Zeit einen Gedanken auf bildungspolitische Fragen. Krautheim war da weit und breit eine totale Ausnahme.
Es war der langjährige Bürgermeister Gustav Meyer, der sich viele Jahre darum bemüht hatte, unsere Schule auf den Weg zu bringen und der sie dann mit größtem Engagement verteidigte. Es ist auch aus heutiger Sicht noch erstaunlich, dass ausgerechnet das arme, verkehrsmäßig miserabel erschlossene, direkt an der alten Landesgrenze liegende Krautheim die extrem schwierige Aufbauphase durchhielt. Lange sah es nämlich auch hier so aus, als würde man die Schule wieder schließen. Nach dem ersten, recht starken Jahrgang fielen die Schülerzahlen wieder ab. Der absolute Tiefpunkt wurde im vierten Jahr durchschritten. Aus diesem Jahrgang waren 1964 lediglich neun Absolventen zu verzeichnen.
Die drei genannten Schulgründungen, neben Krautheim also noch Osterburken und Boxberg, erhielten Jahr für Jahr nur vorläufige Genehmigungen für ihren Betrieb. Die beiden anderen wurden 1957 wieder geschlossen. In Krautheim hatte man darauf gehofft, dass ein Teil der von den Schließungen betroffenen Kinder in unsere Schule wechseln würde. Bürgermeister Meyer hatte das Schulamt in Buchen um Vermittlung gebeten, erhielt aber am 26. Januar 1957 von dort einen Brief mit folgendem Inhalt: „Die Gemeinde Osterburken ist nicht bereit, die Schüler des Mittelschulzuges während des Schuljahres 1957/58 nach Krautheim zu schicken.“ Ein Brief vom 16. Januar 1960 an das Oberschulamt in Karlsruhe, enthält folgenden Passus: „Ebenso hat Osterburken bis jetzt prinzipiell keine Kinder nach Krautheim geschickt mit der Begründung: Wenn unsere Schüler auswärts gehen, dann nur auf eine Oberschule. (Wahrer Grund: Ablehnung der eigenen Mittelschule.)“ Vermutlich handelte es sich bei dem Schreiber um Bürgermeister Meyer, denn er beschwerte sich am 11. Februar 1961 bei dem Buchener Kreisschulrat ganz ähnlich: „Es ist doch kein Geheimnis, daß der gute Herr Rektor von Osterburken nach wie vor in gehässiger Form gegen Krautheim ist und deshalb schon in den letzten Jahren lieber die Kinder nicht zur Mittelschule führte, als daß sie nach Krautheim gehen.“
Auffällig ist, dass der Schriftverkehr jeweils im Januar bzw. Februar stattfand. In dieser Zeit liefen die Anmeldungen zu den obligatorischen Aufnahmeprüfungen für das nach den Osterferien beginnende Schuljahr – und da bangte man in jedem Jahr um die Verlängerung der vorläufigen Genehmigung. Und zu dem Aufnahmejahr 1961 kann ich noch ganz persönlich folgendes ergänzen: Aus Adelsheim und Osterburken, den zwei größten Gemeinden in dem hiesigen Bildungsnotstandsgebiet mit jeweils gut 3.000 Einwohnern, traten in diesem Jahr lediglich drei Kinder in das Gymnasiums in Buchen ein, darunter lediglich ein Junge aus Osterburken, das war alles. Ich weiß das genau, weil sie meine Klassenkameraden waren. Aus heutiger Sicht war es ein Skandal: Die Kinder aus den gescheiterten Schulversuchen wurden ausnahmslos in die Volksschule zurückgeschickt. Von Missgunst geleitete Kirchturmpolitik war allemal wichtiger als die Zukunft der eigenen heranwachsenden Mitbürger.
Auch von jenseits der seit 1953 nicht mehr bestehenden Landesgrenze kam heftiges Störfeuer, denn in den Köpfen vieler Politiker und Verwaltungsbeamter waren die Gräben noch so tief, dass sie jeden Weitblick verhinderten. Der Landrat von Künzelsau, in dessen Landkreis es damals noch keine Mittelschule gab, hatte sich beim Kultusministerium beschwert und einen Brief vom 23. Juli 1955 an das Oberschulamt Karlsruhe mit folgendem Inhalt ausgelöst: „Das Oberschulamt wird gebeten, nochmals zu prüfen, ob der Mittelschulzug in Krautheim finanziell gesichert ist. … Wie uns der Landrat von Künzelsau mitteilt, hat sich der Kreis Künzelsau keineswegs verpflichtet, einen Pauschalbetrag für die Kinder seines Kreises an Krautheim zu zahlen.“ Man legte es offensichtlich darauf an, den grenznahen Schulversuch zum Scheitern zu bringen und hat dabei die hiesige prekäre Finanzsituation als Hebel benutzt, indem man eine Beteiligung an den Unkosten verweigerte.
Zu diesem Brief passt hervorragend ein Bericht unseres späteren Rektors Bruno Amann, der 1955 der erste Klassenlehrer des neu gegründeten Mittelschulzuges war. In der Festschrift zur unserer 40-Jahr-Feier schrieb er:
„Im Juni 1955 erhielten wir einen ungewöhnlichen Schulbesuch. Ein Klopfen an der Tür unterbrach den Unterricht und herein kam ein grau melierter, älterer Herr, der sich als Präsident des Oberschulamts Stuttgart vorstellte. Seine Absichten waren mir unklar, schulisch gehörten wir ja zum Bereich des Oberschulamtes Karlsruhe. Der Besucher ging auf einzelne Schüler zu und fragte die Verdutzten, woher sie kämen und warum sie gerade in diese Schule nach Krautheim gingen. Der Herkunftsort schien eine Rolle zu spielen. Als Antwort erhielt er meistens, sie wollten hier mehr lernen, um später weiterzukommen. Das war schon alles. Nach kurzem Abschied war der Präsident, so schnell, wie er gekommen war, wieder verschwunden. Er ließ sich weder bei Fräulein Kuhnimhof (damals die Schulleiterin) noch beim Bürgermeister sehen, die erst durch mich von diesem merkwürdigen Besuch erfuhren. Alle hatten den Eindruck, daß er sich als hoher Schulbeamter um die schwäbischen Kinder sorgte, die sich freiwillig einer badischen Schule und einem badischen Lehrer ausgeliefert hatten.“
Diese Querschüsse blieben nicht ohne Folgen. Als ein Künzelsauer Junge an unsere Schule wollte, wurde das vom Regierungspräsidium Karlsruhe abgelehnt. In einem Schreiben vom 6. März 1957 hieß es: „Den Eltern ist anzuraten, ihren Sohn von der Volksschule an die Höhere Handelsschule zu schicken, da bei der geringen Schülerzahl des Mittelschulzugs in Krautheim dessen Bestand nicht als gesichert erscheint.“
Auch ohne Störfeuer aus dem Umkreis hätte man es vor Ort wirklich schwer genug gehabt. Krautheim war eine arme Gemeinde. Zwar hatte man 1950 wieder die Stadtrechte erhalten, aber kaufen konnte man sich dafür nichts. Die Eintragung der damaligen Ehrengäste bei der Wiederverleihungsfeier im goldenen Buch der Stadt erfolgte mit Bleistift! Mehr ist dazu wohl nicht zu sagen. Man hatte nicht einmal ein Schulhaus für den Mittelschulzug. Zunächst musste die alte Synagoge genutzt werden, jedes Jahr kam ein weiteres Provisorium in verschiedenen Häusern hinzu. Wilhelm Walz nennt in seiner Chronik neben der Synagoge noch das Gemeindehaus, den Feuerwehrgeräteraum und das Wohnhaus der Familie Josef Stumpf. Lediglich zur großen Pause versammelten sich alle Schüler auf dem Schulhof der Volksschule, dem heutigen Rathaus, wo sie in Fünferreihen aufgestellt bis zum Ende der Pause im Kreis herumzuschreiten hatten. Genau genommen hatte man für den Mittelschulzug überhaupt kein Geld, wie man in Künzelsau durchaus richtig erkannt hatte. Aber Bürgermeister Meyer gab nicht nach. Er versprach, dass die Gemeinde alle entstehenden Unkosten selbst trage. Aber in Wirklichkeit hatte er das Geld jeweils nur vorgestreckt und durch äußerst geschicktes Taktieren anschließend alle nur erdenklichen Zuschüsse verlangt und auch durchgesetzt. Ohne sein gekonntes und beharrliches Engagement gäbe es bei uns heute nichts zu feiern.
Im Jahr 1960 hatte er endlich das entscheidende Ziel erreicht: Die Schule wurde durch einen Erlass des Kultusministeriums endgültig genehmigt. Ein Jahr später legten die ersten 15 Schüler und 11 Schülerinnen die Mittlere Reife-Prüfung ab. Es mag also gut sein, dass sich ein wesentlicher Teil der im gleichen Jahr im Bildungsnotstandsgebiet Bauland-Ahornwald gezählten 36 in einer Schulbildung befindlichen Jugendlichen im Alter von 16 bis 19 Jahren zum ersten Abschlussjahrgang unserer Schule gehörte – oder anders herum: Ohne unsere Schule wäre die damals wahrlich trostlose Bildungssituation noch weit übler ausgefallen. Dann noch eine Anmerkung zu dem Mädchenanteil: Bereits im zweiten Abschlussjahr – 1962 – stellten die Mädchen die Mehrheit und das war in den sechziger Jahren meistens der Fall. Unsere Schule hatte damit auch eine emanzipatorische Funktion, die für die damalige Zeit kaum hoch genug eingeschätzt werden kann.
Ein Problem war lange Zeit auch die Lehrerversorgung. Auf Grund der Tatsache, dass aus unserer bildungsfernen Gegend kaum Lehrer zu rekrutieren waren, wurden hier Jahr für Jahr neue Lehrer zugewiesen. Die meisten stammten aus dem Großraum Heidelberg – Mannheim und mussten ihre erste Stelle hier antreten. Das erste Formular, das sie ausfüllten, war oft der Versetzungsantrag. In manchen Fällen musste man Verständnis dafür haben, so in dem einer jungen Lehrerin, die ein Zimmer in dem alt-ehrwürdigen Schloss gemietet hatte, wo während der Nacht ein Teil der maroden Stuckdecke herab brach, sie selbst aber mit dem Schrecken davonkam. Aber auch hier war man um Abhilfe bemüht, die Stadt baute zwei Lehrerwohn-häuser und versuchte durch billige Mieten mit einigem Erfolg, die extreme Rotation in den Griff zu bekommen.
Nach der endgültigen Genehmigung der Schule von 1960 ging es Schlag auf Schlag: Noch im gleichen Jahr wurde mit der Planung eines neuen Schulhauses, der heutigen Grund-, Haupt- und Werkrealschule, begonnen. Sie wurde bereits 1963 bezogen und bald erweitert. Die darin integrierte Kleinschwimmhalle war die einzige solche Anlage im Landkreis Buchen und galt damals als purer Luxus. 1970 wurde die Realschule selbstständig und konnte zwei Jahre später das neu gebaute Schulhaus beziehen. Der Bau der Sporthalle im Jahr 1976 komplettierte das hiesige Schulzentrum im Wesentlichen.
All das, was ich jetzt in wenigen Sätzen aufgezählt habe, forderte der kleinen Stadtgemeinde oft ein Maximum dessen ab, was möglich war. Und wenige Gemeinden von der Größe Krautheims können mit gutem Grund so stolz auf ihr Engagement im Bereich der Bildung sein wie unsere.
Ich selbst war von 1973 bis 2012 – also 39 Jahre lang – Lehrer an der hiesigen Realschule. Da kann es nicht ausbleiben, dass ich Höhen und Tiefen erlebt habe, doch das gehört nicht hierher. Zum Schluss möchte ich eines festhalten: Meine letzten Berufsjahre waren in vielerlei Hinsicht die schönsten. Das lag zum einen an der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der Schulleitung unter Herrn Weniger und seinen Stellvertretern, Frau Knapp und Herrn Kurfeß, und ganz besonders an dem tollen kollegialen Klima, in dem Alt und Jung absolut vorbildlich zusammenarbeiten. In habe mich gerade in dieser Zeit hier sehr wohl gefühlt. Es war fast so schön wie in der folgenden Pensionärszeit!
In den letzten Jahren wurden vielfältige, äußerst radikale Veränderungen in der Schulpolitik durchgezogen. In den 60er Jahren hatte man mit großem Aufwand die alten Volksschulen – endlich – abgeschafft und allen Kindern den Zugang zu dem gegliederten Schulsystem mit Hauptschule, Realschule und dem gymnasialen Bereich angeboten. Zeitgleich wurde ein differenzierter Sonderschulbereich für Kinder mit besonderen Schwierigkeiten aufgebaut. Immer mehr flexible Übergänge zwischen den verschieden Schularten wurden geschaffen. Jahrzehnte lang war es gesellschaftlicher Konsens, dass in möglichst homogenen Lerngruppen mit speziell dafür ausgebildeten Lehrkräften die besten Ergebnisse zu erzielen seien. Aber heute wird dies von maßgeblichen Kreisen unserer Gesellschaft bestritten. In den mit großem Aufwand propagierten Gemeinschaftsschulen werden jetzt wieder Kinder mit extrem unterschiedlichen Voraussetzungen von Lehrern, die scheinbar alles können, gemeinsam unterrichtet. Vieles davon erinnert mich an die alte Volksschule, die ich noch als kleines Schulkind erlebt habe. Hoffentlich wird das kein Salto rückwärts! In diesem Sinn wünsche ich meiner Schule, meiner Realschule und euch, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, euren Schülern und deren Eltern, für die Zukunft alles Gute!